Hidden Champions

Die gibt’s in Deutschland nicht nur in der Provinz in der mittelständischen Wirtschaft, sondern auch in den Eisbahnen am Königssee, in Alten- und in Winterberg: Die Anschieber im Bobsport entscheiden in den ersten Augenblicken der Fahrt über Top oder Flop, im Rampenlicht wie die Piloten stehen sie aber selten. Wir ändern das: Bühne frei für einen der erfolgreichsten ihrer Zunft, Weltklasse-Anschieber Thorsten Margis.

InMotion: Thorsten, du hast mit deinem Piloten Francesco Friedrich zuletzt alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, ihr seid amtierende Weltmeister, Weltcup- und Olympiasieger. Aber eigentlich kommst du aus der Leichtathletik, aus dem Zehnkampf, um genau zu sein, stimmt’s? Wie bist du als Anschieber im Bob gelandet?

Thorsten Margis: Ja genau, ich war ursprünglich Zehnkämpfer. 2009 hat mich ein Bobpilot, Oliver Harras aus Oberhof, gefragt, ob ich nicht Lust hätte, anzuschieben. Damals hab‘ ich noch abgelehnt, weil ich mit dem Zehnkampf weitermachen wollte. Irgendwie hat der aber einfach nicht lockergelassen (lacht).

Kannst du dich noch an dein „erstes Mal“ erinnern?

Klar, schon ab 2010 bin ich immer wieder mal nach Oberhof gefahren und hab‘ mir vor Ort angeschaut, was genau als Anschieber so gefragt ist, mein Interesse war also erstmal grundsätzlich geweckt. Im Januar 2011 hatte Oliver dann Not am Mann bei der Deutschen Meisterschaft und mich deswegen gefragt, ob ich nicht vorbeikommen könnte. Das war ganz spontan! Ich bin also nach Winterberg und hab‘ dort tatsächlich meine ersten Fahrten gemacht.

Und ab diesem Zeitpunkt war deine Leidenschaft für den Wintersport entbrannt?

Noch nicht ganz, im Sommer 2011 bin ich zunächst nochmals zurück zum Zehnkampf. Unterm Strich lief die Saison aber nicht so, wie ich es mir erhofft hatte – und so bin ich ab dem Herbst direkt mit den Bobfahrern ins Trainingslager gestartet. Erst da habe ich mit meiner alte Liebe, dem Zehnkampf, wirklich gebrochen. Ich blieb dem Leistungssport ja treu, insofern fiel mir das recht leicht.

Wie kommt es dazu, dass ein Bobpilot einen „gelernten“ Leichtathleten überhaupt auf dem Schirm hat? Ist es quasi so, dass für den Bobsport spannende Kandidaten aus anderen Sportarten grundsätzlich beobachtet werden, weil sie z.B. durch ihre Schnellkraft auffallen?

Ja, vor allem in der Leichtathletik. Das dürfte die größte Quelle für potentielle neue Bobsportler sein, denke ich. Dort gibt es ganz viele Talente, die gut ausgebildet sind, was das Läuferische angeht. Wenn es mit der Karriere in der Leichtathletik dann nicht ganz so läuft, wie man sich es vorstellt, bietet der Bobsport eine Alternative. Bei mir war es letztlich genauso: Der Aufwand, den ich im Zehnkampf betrieben habe, hat nicht die gewünschten Erfolge gezeigt. Vor allem die Hürden waren für mich ein Problem …

Das klingt jetzt, zugespitzt, fast so ein bisschen nach: Wenn es in der Leichtathletik nicht klappt, dann geht man eben in den Bobsport?

(Lacht.) Naja, vielleicht ist das auch ein bisschen so, was aber überhaupt nicht schlimm ist! Denn es bedeutet keineswegs, dass jeder schnelle Sprinter oder gute Leichtathlet, der in seiner Disziplin nicht in der Weltspitze ankommt, automatisch ein guter Bobsportler wird. So einfach ist das auch wieder nicht! Aber es stimmt schon, es gibt sicherlich nur Wenige, die als junge Sportler sagen: „Mensch, ich will Bob-Anschieber werden!“ Bei den Piloten sieht das anders aus, die sind in der Regel regional verwurzelt und wachsen in den Sport rein.

Das führt uns gleich zur nächsten Frage: Welche Eigenschaften muss ein Top-Anschieber mitbringen?

Die Athletik ist das A und O. Er muss Schnellkraft haben, muss den Bob in kürzester Zeit auf Höchstgeschwindigkeit bringen. Man muss den schweren Schlitten auf den ersten Metern sehr schnell beschleunigen und diesen Speed dann bis zum Einsteigen auch halten können. Ohne eine gewisse Zähigkeit geht es außerdem nicht. Und man braucht Know-how in puncto Material, Bau und Materialpflege. Im Endeffekt ist das Anschieben fast so etwas wie eine eigene leichtathletische Disziplin – mit vielen zusätzlichen Anforderungen, die so eben nur an einen Anschieber gestellt werden.

Über welches Gewicht reden wir in der Regel eigentlich?

Also ein Viererbob, der wiegt 210 Kilo, mindestens. Und bei uns ist das auch meistens so. Das klingt erstmal nach viel. Aber der steht ja auf Eis! Und wenn es jetzt nicht gerade 20 Grad Minus hat, kleben die Kufen nicht am Eis. Es geht dann also ganz schön schnell, dass der Bob auf Speed kommt, wenn vier solche Kerle wie wir pushen. Wir haben das mal ausgerechnet: Im ersten Moment bringen wir ungefähr 2.000 Newton auf den Schlitten, das ist ordentlich. Aber wie gesagt, ganz schnell, wirklich innerhalb einer Sekunde, ist dieser große Impact weg und man kommt schon ins Laufen.

Wie wichtig ist die Startzeit?

Man sagt, so Pi mal Daumen, dass der Start ein Drittel der Gesamtleistung ausmacht. Ein weiteres Drittel kommt durch die Fahrt und ein Drittel ist das Material. Das variiert natürlich von Bahn zu Bahn, diese Anteile verschieben sich dann ein wenig. Es gibt Bahnen, da ist der Start unheimlich wichtig, wir reden dann vielleicht über 40 Prozent Startanteil, z.B. in Winterberg oder Innsbruck. Ganz generell: Je geringer die Materialunterschiede werden – und der Trend geht seit einiger Zeit eindeutig in diese Richtung –, desto wichtiger wird der Start.

Wie ist es während der Fahrt? Habt ihr dann auch noch eine aktive Rolle? Müsst ihr zum Beispiel Gewicht mit dem Piloten verlagern?

Ja. Genau. Wie so ein nasser Mehlsack sollte man nicht drinsitzen (lacht). Man sollte die Bahn wirklich gut kennen und in den richtigen Momenten mitgehen, um die letzten Hundertstel rauszukitzeln. Das wird nicht viel ausmachen, aber es kann trotzdem das eine entscheidende Hundertstel sein.

Könntest du den Bob auch steuern?

Ich würde mal behaupten, ich könnte es wohl besser als irgendein „Normalo“ von der Straße. Aber offen gesagt: nicht sehr viel besser. Da ist schon noch ein großer Unterschied zu den Piloten.

In eurem Sport reden wir also schon über eine sehr starke Arbeitsteilung, oder? Weil: Ich nehme an, ein Pilot hat dafür nicht annähernd diese Sprungkraft und Athletik, die einen Anschieber auszeichnet?

Also wenn man einen guten Piloten hat, so wie Franz, dann ist das schon so. Der beherrscht den Start durchaus auf Anschieber-Niveau. Das macht eben den Unterschied und nicht zuletzt uns auch so erfolgreich.

Was habt ihr denn noch vor in dieser Saison? Es gibt ja kaum noch was, das noch zu gewinnen wäre …

Ja, aber das Ziel für den Rest unserer Karriere wird lauten, das Niveau zu halten. Ganz einfach!

Abschließend noch die Frage: Stört es dich eigentlich, dass die Piloten oftmals die ganzen Lorbeeren abkriegen? Und die Anschieber nicht so sehr, obwohl ihr – wie wir in diesem Interview ja nun gelernt haben – einen ganz wichtigen Beitrag zum Erfolg leistet?

Naja. Ich sag mal so: Man gewöhnt sich dran. Bei uns im Team ist das allerdings gar nicht so, denn Francesco sieht in uns definitiv nicht nur irgendwelche Esel, die den Schlitten anschieben (lacht). Wir gehen auch immer geschlossen als Team zum Interview. Manchmal sagen die dann: „Ne, wir wollen nur mit Franz sprechen“. Und man denkt: Ganz ehrlich? Seid ihr bescheuert? Wir sind doch eine Mannschaft! Teilweise liest man in den Medien auch Berichte, in denen die Anschieber nicht genannt werden. Das ist dann schon bitter. Und auch irgendwie unprofessionell. Aber eigentlich sind das Ausnahmen.

Lieber Thorsten, vielen Dank für die spannenden Einblicke in deinen Job als Anschieber. Und viel Erfolg in der Saison 2021/22!

ENDSPURT FÜR EINE ERFOLGREICHE SAISON 2022/23

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